Wie die grünen Eisenhäuschen aus dem 19. Jahrhundert bis heute das Stadtbild prägen – und warum man hier seinen „Kaffee wegbringen“ konnte
Stellt euch vor: Ihr flaniert über den Gendarmenmarkt, bewundert den Französischen Dom und entdeckt plötzlich ein kleines grünes Gusseisen-Häuschen, das aussieht wie eine Mischung aus Pavillon und Sommerlaube. „Café Achteck“ steht an der Tür. Ihr denkt: „Hipster-Brunch-Bar oder was?“
Fehlanzeige. Hier wird nicht Latte Macchiato serviert, sondern seit über 140 Jahren eine ganz andere Sorte Flüssigkeit entsorgt. Das Café Achteck ist Berlins kultiges Pissoir – und der Name? Berliner Humor vom Feinsten.
Als Berlin noch stank wie die Pest
Um die Geschichte des Café Achteck zu verstehen, müssen wir ins Berlin der 1850er Jahre zurück. Die Stadt explodierte: Von 700.000 Einwohnern 1870 auf fast 2 Millionen bis 1919. Das Problem? Bis Anfang der 1870er hatte Berlin keine echte Kanalisation.
Der SPD-Politiker August Bebel beschrieb die dramatische Lage in seinem Buch „Aus meinem Leben“:
„Mit den hygienischen Zuständen war es übel bestellt. Eine Kanalisation war noch nicht vorhanden. In den Rinnsteinen, die längs der Bürgersteige hinliefen, sammelten sich die Abwässer der Häuser und verbreiteten an warmen Tagen mephitische (verpestende) Gerüche. Bedürfnisanstalten auf den Straßen oder Plätzen gab es nicht. Fremde und namentlich Frauen gerieten in Verzweiflung, bedurften sie einer solchen.“
Der Spottvers, der Geschichte schrieb
Die Berliner hatten genug. Und da sie schon immer eine große Klappe hatten, verfassten sie einen Spottvers auf den damaligen Polizeipräsidenten Karl Ludwig von Hinckeldey, der sich weigerte, Geld für öffentliche Toiletten zu bewilligen:
„Ach lieber Vater Hinckeldey,
mach uns für unsre Pinkelei
doch bitte einen Winkel frei!“
Ein Reim, der in die Stadtgeschichte einging. Die Berliner meinten das nicht nur spaßhaft – es bestand dringender Handlungsbedarf. Unter Hinckeldeys Nachfolger wurden 1863 schließlich die ersten öffentlichen Urinale installiert.
Von zwei Mann zu sieben: Die Achteck-Revolution
Die ersten Modelle waren oval und boten Platz für zwei Männer. Für eine rasant wachsende Metropole: viel zu wenig. Berlins Stadtbaurat Carl Theodor Rospatt erkannte, dass diese Zwei-Mann-Toiletten für die schnell wachsende Bevölkerung in Berlin nicht ausreichten.
1878 legte Rospatt seinen revolutionären Entwurf vor: Ein achteckiges Gusseisen-Häuschen mit sieben Stehplätzen, grün lackiert und mit kunstvoll verzierten Wänden. Die ersten beiden Anlagen wurden 1879 auf dem Weddingplatz und dem Arminiusplatz in Moabit aufgestellt.
Offiziell hieß das Modell „Waidmannslust-Typ“ – wegen der grünen Farbe. Für die ungewöhnliche Wahl der Farbe ist keine Erklärung bekannt. Die Berliner fanden trotzdem sofort einen Spitznamen: Café Achteck.
Warum „Café“? Berliner Humor at its best
Der Name ist pure Berliner Schnauze. „Der Name stammt daher, dass man hier seinen Kaffee wegbringen konnte“, erklärt Toiletten-Tour-Guide Anna Haase schmunzelnd. Eine andere Theorie: Die grünen Häuschen sahen aus wie elegante Pavillons, in denen normalerweise Kaffee serviert würde. Nur dass hier eine andere Art von Flüssigkeit im Mittelpunkt stand.
Das achteckige Design war nicht nur schön, sondern auch durchdacht: Sieben Wandsegmente bildeten den Grundriss, das achte fehlte und bildete den Eingang, geschützt durch einen dreiseitigen Paravent. Die Architekten dieser Zeit ließen sich von der Doppelanforderung zu Höchstleistungen beflügeln. Funktional und verschnörkelt, praktisch und ansehnlich fielen die Entwürfe aus.
Nur für Männer – Frauen waren unerwünscht
Es gab nur einen Haken: Aus „Sicherheits- und Schicklichkeitsgründen“ waren sämtliche öffentlichen Anstalten nur für Männer geplant. Die Stadtverwaltung ging lange davon aus, dass Frauen „ihr Geschäft“ vor dem Ausgehen gefälligst zu Hause erledigen sollten.
Eine krasse Fehleinschätzung und gleichzeitig eine Marktlücke: Schon bald errichteten private Unternehmen sogenannte „Vollanstalten“ auf eigene Kosten und betrieben diese gegen Gebühr. Diese konnten nun von Männern und Frauen auch für das große Geschäft genutzt werden.
Goldene Zeiten und dramatischer Niedergang
Um 1920 standen 142 Café Achtecks in Groß-Berlin – sie gehörten zum Stadtbild wie Litfaßsäulen oder Bänke. Die klassisch grünen Bedürfnisanstalten gehörten schon bald zum Alltag der Stadt, unscheinbar wie Sitzbänke und Litfaßsäulen.
Dann kam der Krieg. Bomben, fehlende Wartung und Vandalismus setzten den gusseisernen Kunstwerken zu. Eine grüne Farbschicht war natürlich kein Schutz gegen die Bomben, die auf Berlin fielen, und aufgrund mangelnder Wartung, insbesondere im Cold-War-Ost-Berlin, erlagen viele der verbleibenden Metallstrukturen Rost und Vandalismus.
Von der Toilette zum Burgerbrater
Heute existieren noch etwa 30 Exemplare – viele haben spektakuläre Karrieren hinter sich. Am Schlesischen Tor bietet eine der großen rechteckigen Anlagen dem Burgermeister eine Heimat, eines der beliebtesten Burgerläden der Stadt. Am Wittenbergplatz wird ein ehemaliges Toilettenhaus heute als Imbiss (mit einer famos leckeren Bio-Currywurst) genutzt.
Die noch funktionsfähigen Café Achtecks werden von der Wall AG betrieben – dem Unternehmen, das in Berlin das Toiletten-Monopol besitzt. Die denkmalgerechte Sanierung eines Café Achteck kostete rund 250.000 Mark. Einige wurden modernisiert und bieten jetzt auch Damentoiletten.
Kultstatus erreicht
Was als hygienische Notwendigkeit begann, ist heute Kulturgut geworden. 17 Einrichtungen stehen berlinweit unter Denkmalschutz. Touristen fotografieren sie wie Sehenswürdigkeiten, und Anna Haase bietet mit ihrer „Tour de Toilette“ Einblick in die Notdurft der Berliner.
Die Ironie: In einer stolzen Stadt wie Berlin war man plötzlich sogar auf seine Bedürfnisse stolz. Das grüne Café Achteck steht am Gendarmenmarkt zwischen Konzerthaus und Französischem Dom und ist mindestens genauso fotografiert wie seine architektonisch bedeutenderen Nachbarn.
Das Erbe lebt weiter
Carl Theodor Rospatt (1831-1901) hätte sich vermutlich nie träumen lassen, dass sein pragmatischer Toiletten-Entwurf über 140 Jahre später Kultstatus genießen würde. Seine grünen Gusseisen-Häuschen sind zu unverwechselbaren Symbolen Berlins geworden – Stadtmöbel mit Seele und Geschichte.
Das nächste Mal, wenn ihr an einem Café Achteck vorbeigeht, denkt daran: Hier steht ein Stück Berliner Kulturgeschichte. Ein Denkmal für Pragmatismus, Bürgerwille und den unverwüstlichen Berliner Humor, der aus einer stinkenden Notlage eine Legende machte.
🏛️ 5 Fakten über das Café Achteck, die du noch nicht wusstest
- Der offizielle Name war „Waidmannslust-Typ“ – die Berliner erfanden „Café Achteck“ als Spitznamen
- Ein berühmter Spottvers brachte sie ins Rollen: „Ach lieber Vater Hinckeldey, mach uns für unsre Pinkelei doch bitte einen Winkel frei!“
- 1920 gab es 142 Stück in Berlin – heute existieren nur noch etwa 13
- Eine denkmalgerechte Sanierung kostet 250.000 Mark – soviel wie eine Eigentumswohnung
- Das berühmteste Café Achteck am Gendarmenmarkt – täglich von Touristen fotografiert –
istwar nur ein Nachbau von 2003 und kein historisches Urinal. 2020 musste es leider abgerissen werden, da eine Instandsetzung nicht mehr möglich war.
Auch Klobetrotter erledigt sein Geschäft stets gründlich.
Quellen: Wikipedia, Tip Berlin, Berlin Love, In-Berlin-Brandenburg.com, Berlin On Bike, Berliner Zeitung, BZ
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